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Grenzen
Eindrücke und Reaktionen.
Grenzen und Thunfische
Während des Kolloquiums haben wir mehrmals über Draht- und Gittergrenzen gesprochen: Stacheldraht als Lagergrenze, miefige und rostige Gefängnisse, die eher überbevölkerten Rattenkäfigen als menschenwürdigen Räumen ähneln. Eine der Extremformen der Grenze, eine „schwimmende Grenze“ war gestern die letzte Schwelle der Hoffnung für Flüchtlinge und Emigranten aus dem südöstlichen Mittelmeer, im Kanal zwischen Malta und Sizilien. Die Schiffbrüchigen hatten sich im stürmischen Wellengang an einen Thunfischkäfig geklammert: sieben von ihnen (darunter auch Kinder) sind dabei ertrunken. Beim verzweifelten Versuch, sich am Gitter des schwimmenden Käfigs festzuklammern. Der Käfig aber wurde geschont, um den Fischfang nicht zu beeinträchtigen. Der Thunfisch hat einen höheren Wert. Schon vor fünf Jahren blieb eine Flüchtlingsgruppe drei Tage an einem solchen Käfig hängen, wegen der Weigerung des Reeders die Ertränkenden an Bord zu hieven, da er Angst hatte, der fetten Thunfische verlustig zu werden. Noch unlängst hörte man von „Grenzen der Gentechnologie“ und von „Menschenzucht“ reden, seit gestern wissen wir, dass die Thunfischzucht einen unantastbaren Wert hat. Beim Werteweltenkolloquium haben wir gelernt, dass der Gast und sein Geist den absoluten Vorrang haben, dass Grenzen fließend und offen sein sollen, dass Meeresgrenzen und Kolonialgrenzen aberwitzige Kartographenphantasien sein können. Dazu haben wir gelernt, wie wenig wir noch heute über jenen Geist wissen, der aus der Welt der gestern gestorbenen Flüchtlinge kommt. Eine der geistigen Anregungen dieser Tage war es, endlich die Hegelsche Arroganz und Süffisanz mit einem ernsteren Studium des morgenländischen Gedankenguts zu tauschen. Die gestrigen Schiffbrüchigen zu retten ist zu spät. Ihre Kultur ernsthaft kennenzulernen noch nicht.
Roberto CazzolaMich hat der Satz von Herrn von Bernstorff sehr beeindruckt, dass die Linie, die die Würde des Menschen begrenzt, nicht rational zu ziehen sei: Hier ist die Ratio nicht die ultima Ratio.
U. GrotzWo ich nicht zugehörig bin, kann ich auch nicht dissident werden. Aber umgekehrt gibt auch keine Zugehörigkeit ohne Dissidenz. Politische Zugehörigkeit lebt davon, dass man immer wieder an die Grenzen geht, an die sie stößt. Letztlich gibt es nichts Politisches, das man nicht verändern könnte.
Gret HallerStaatsgrenzen. Politische Grenzen. Systemgrenzen. „Natürliche Grenzen“ — Flüsse; Kultur-Grenzen — Sprachgrenzen — nicht notwendig übereinstimmend — siehe unsichtbare Limesgrenze in Deutschland (Wein und Bier, Kartoffel und Nudel).
Grenzen als Trennung. Zeit daran zu erinnern, welch grenzenloses Glück die jüngeren Europäer haben, ohne Mauern und Stacheldraht und ohne Todesstreifen aufzuwachsen. Ohne Pass und ohne Visum von Riga bis Syracus reisen zu können.
In Kindheit und Jugend meiner Generation war der trennende Charakter der Grenzen bis zur Absurdität gesteigert. Eiserner Vorhang: nicht nur Abwehr, Abschreckung der anderen – vor allem Mittel der Abschottung eigener Untertanen. Man sollte vergessen, dass es eine andere Welt dort draußen gibt. Basis absoluter Herrschaft. Nord-Korea. Schon vor dem II. Weltkrieg – franz. Grenze durch Maginot-Linie militärisch geschützt. Die deutsche durch Westwall (beide taugten militärisch nichts). Dahinter: Feindesland. Nationalismus – wie alle tot. Ideologien – brauchen den Feind. Angst vor dem Feind. Angst und, paradox, Überlegenheitsgefühl.
In Wahrheit: Übergänge. Nachbar zu Nachbar. Fließende Übergänge der Sprachen, Dialekte, Sippen, Kulturen. Alle unsere Völker sind Mischungen. Das ist ihr Reichtum. Wie polnisch sind die Deutschen? (Hasspost). Umgekehrt: wie deutsch sind die Polen? Respekt vor alten und neuen Minderheiten. Selbst Frankreich entdeckt den Reichtum seiner Minoritäten.
Daraus ergeben sich Konsequenzen für Europa.
Klaus HarpprechtIch habe die Veranstaltung als Hörer intensiv verfolgt und miterlebt. Ein wichtiger Punkt für mich ist grundsätzlich die Internationalität des Ereignisses, da Wissenschaftler aus aller Welt ihre Gedanken rund um das Thema „Grenzen“ zusammengetragen haben. Es zeigt sich, dass bei aller kultureller Verschiedenheit eine große Übereinstimmung in Bezug auf wichtige Grundwerte besteht.
Besonders beeindruckt war ich von der Bemerkung Chetana Nagavajaras aus Bangkok, dass ihn die Musik Franz Schuberts dazu animiert habe, Deutsch zu studieren. Einen ähnlichen Hinweis auf die Bedeutung der Kunst hat Gret Haller gegeben, als sie auf persönliche Erfahrungen mit einer Skulptur der „Pietá“ und der Musik Bachs hinwies: Derartige Erlebnisse seien möglicherweise besser geeignet, zu einer Begriffsbestimmung der Menschenwürde beizutragen als rationale Definitionen, die leicht an ihre Grenzen stoßen. Kunst als Weg der Auseinandersetzung mit dem Thema „Grenzen“ war auch Inhalt des Vortrags von Ronel Alberti da Rosa aus Porto Alegre.
Die Tatsache, dass alle Teilnehmer — mit Ausnahme des Nobelpreisträgers Wole Soyinka — ihre Vorträge in deutscher Sprache gehalten haben, war für mich ebenfalls ein besonderes Erlebnis: so werden Brücken erheblich leichter geschlagen als durch Übersetzungen. Das Beherrschen der Sprache des anderen ist also an sich schon ein Weg, Grenzen zu überbrücken. Als Idee vielleicht banal, aber so hautnah erlebt wird sie lebendig.
Reinhard KißlerUm’s ganz banal und verkürzt auf einen Nenner zu bringen: Für mich war’s nicht die Konstatierung eines Gegensatzes von Grenze und Grenzenlosigkeit / Grenzüberschreitung / Grenzgängertum / Entgrenzung, sondern die Frage — und ein genaueres Hinsehen —, wie, von wem, wozu, womit Grenzen gezogen werden und was damit ein- und ausgegrenzt wird.
Ulrike KistnerIch halte es nicht für möglich, unsere Tagung „in ein paar Sätzen“ zu resümieren. Denn ihr besonderes Gelingen beruht nach meinem Dafürhalten darauf, dass ausnahmslos alle Beiträge aus den verschiedensten Blickwinkeln das Thema 'Grenzen' scharf ausgeleuchtet und seine Komplexität dadurch sehr anschaulich gemacht haben.
Sehr wohl „in ein paar Sätzen“ ausdrücken lässt sich aber das, was gegenwärtig in der Türkei vor sich geht.
Der anhaltende Widerstand gegen Erdogans Politik und seine Pläne macht vor den Augen der „Weltöffentlichkeit“ deutlich, dass die an den Protesten beteiligten Menschen mit ihrem Bewusstsein, ihren Erfahrungen und ihren Erwartungen irreversibel die Grenze zu Vorstellungen von einer Gesellschaft überschritten haben, zu deren „Modernität“ gehört, dass allem staatlichen Handeln die Beachtung von Grund- und Bürgerrechten zugrunde liegt. In der Türkei sind offenbar zu viele Menschen nicht mehr bereit, das Land hinter diese Grenze zurückdrängen zu lassen. Gelingen kann das, wenn überhaupt, nur mit einem immer rücksichtloseren Einsatz aller zur Verfügung stehenden Machtinstrumente. Aber der Preis, den Erdogan für den Machterhalt und die Durchsetzung seiner Vorstellungen von der Zukunft der Türkei wird bezahlen müssen, besteht darin, dass er den Weg wirtschaftlicher Erfolge, für den er bislang auch international geschätzt wurde, nicht wird fortsetzen können, da er auf die Loyalität und Kooperationsbereitschaft und zumindest teilweise auch auf die Anwesenheit der von ihm „unterworfenen“ Teile der Bevölkerung nicht mehr wird zählen können. Diesen Preis wird aber nicht allein er, sondern leider das ganze Land zahlen müssen.
Leo KreutzerDas Ringen um die Frage „Grenze“ — ob im Sinn von Eingrenzung oder Entgrenzung — kann vom ewigen Streben nach einer beseren Welt zeugen, wenn wir die inneren Grenzen in uns unter Kontrolle bringen können.
Chetana NagavajaraDeutlich wurde die Ambivalenz der beiden, das Kolloquium tragenden Konzepte: Interdisziplinarität und Internationalität. Nur im Modus der Geselligkeit, wie sie von Friedrich Schleiermacher oder Georg Simmel als besondere Form der Vergesellschaftung entworfen und wie sie während des Tübinger Forums im zweckfreien, leichten, spielerischen Gespräch auf und nach dem Podium exemplarisch realisiert wurde, lassen sich disziplinäre und nationale Grenzen mit Gewinn überschreiten. Im kleinen Grenzverkehr zwischen den Wissenschaftskulturen wird man auf Interessantes aufmerksam. Wird Interdisziplinarität jedoch instrumentalisiert für externe Zwecke, etwa wenn sie politisch eingefordert und finanziell prämiert wird, kann sie ein Einfallstor werden, durch das der Gegenstand wissenschaftlicher Forschung politisch oder ökonomisch modelliert und die disziplnäre Autonomie der Wissenschaft ausgehebelt zu werden droht. Und Internationalität, das Ausland als Argument, kann die Wissenschaft zum Vehikel der hegemonialen Vereinheitlichung machen, das bis zur Kolonisierung reicht.
Frank-Olaf Radtke