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Das Projekt.
Die Beschleunigung der weltweiten Austauschprozesse betrifft Waren und Menschen. Mit den Menschen und weniger mit den Waren wechseln auch kulturelle Wertesysteme ihre Geltungsräume, wo sie mit anderen konfrontiert werden. Dass der Export und Import von Know-How auch den Transfer von Menschengruppen mit verschiedenen kulturell geprägten Werte- und Rechtsverständnissen mit sich bringt, wird im einheitlichen Maßstab des Preises auf dem globalen Marktplatz nicht erfasst. Die Koexistenz unterschiedlicher Wertegemeinschaften verlangt aber das Tauschmittel der Sprache für eine wechselseitige Wahrnehmung des Anderen. In dem Moment, in dem sich Werte erst im Handeln erweisen und damit immer in einer politischen Fragestellung münden, misst sich der Dialog der Kulturen am gemeinsamen Nenner der Verständigung über die Kulturen des Dialogs.
Die europäische Tradition kann für diesen Dialog einen wertvollen Beitrag leisten. An Europa zeigt sich Diversität kultureller Identitat auf engstem Raum. Gleichzeitig wird die Entwicklung spezifisch europäischer Denkmodelle und Diskussionsmuster ersichtlich, die nicht zuletzt vor europäischen Migrations-Hintergründen seit Jahrhunderten das Weltbild bis heute prägen. Im europäischen Prozess der Aufklärung bildet sich ein für Europa charakteristisches Konzept des Denkens heraus, das von einem kritischen, sich selbst reflektierenden Bewusstsein des Individuums ausgeht und den Dialog als offenes, auf den Gegenstand gerichtetes Verfahren für einen kollektiven Erkenntnisprozess etabliert. Damit stellt der Denkansatz der Aufklärung nicht nur innerhalb des europäischen Raumes eine Kultur des Dialoges zur Verfügung. In dem Bewusstsein, dass die Außenansichten auf Europa immer auch das Selbstverständnis der Europäer und ihre Wertesysteme formen, wird eine interkulturelle Verständigung über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Denk- und Dialogkulturen möglich.
Oftmals wird für diese Verständigung allgemein die zentrale Rolle der Sprache als Medium mit einer Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, die fast vergessen macht, dass Sprache Inhalte formt und verformt und damit immer wieder Wirklichkeiten setzt. Es reicht deshalb nicht aus, von der Einsicht ausgehend, dass unter einem Begriff unterschiedliche Inhalte verstanden werden können, sich so gut als möglich auf einen gemeinsamen Inhalt zu einigen und Bedeutungen zu beschränken. Vielmehr gilt es vor allem für den interkulturellen Dialog, ein Gefühl für die sprachlichen Konnotationen der anderen Kultur zu entwickeln und die sich daraus ergebende Vielfalt an Bedeutungen und assoziativen Anknüpfungspunkten zu wahren. Die in den Konnotationen eines Begriffs emotional geprägten und gespeicherten Erinnerungen verweisen — über das Individuelle hinaus — auf ein kulturelles, sprachlich gefasstes Gedächtnis, aus dem heraus sich das Wertesystem einer Kultur bildet.
Die Reflexion des Dialogs und der Sprache bildet den Ausgangspunkt für die Diskussion über die Spezifika des europäischen Wertekosmos und die Gegenüberstellung unterschiedlicher in ihrer charakteristischen Denkweise begründeter Wertesysteme innerhalb unseres Kooperationsprojekts Wertewelten. Im Rahmen des Projekts wird der tolerante Umgang mit den Werten der anderen Kulturen nicht nur als akademische Fragestellung verhandelt, um der Überprüfung des eigenen Wertesystems zu dienen, sondern über das eigene Werteverständnis hinausgreifend erfahrbar gemacht. Erst vor dem geschichtlichen Hintergrund der einzelnen Kulturen, der für die Vorstellung der komplexen Entstehungskontexte von Werten und ihre Realisierung notwendig ist, lassen sich Konvergenzpunkte, aber auch potentielle Konfliktlinien zwischen den Kulturkreisen identifizieren, ohne dass ihre Systeme monolithisch gegenübergestellt werden. Auf diese Weise lassen sich Differenzen nutzbar machen für ein gemeinsames verantwortliches Handeln.
Dazu sieht das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst finanzierte Projekt die Schaffung eines neuen Netzwerks von renommierten Universitäten aus verschiedensten Kulturräumen vor. Innerhalb dieser Vernetzung erfordert das Rahmenthema der Wertegemeinschaften die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Geisteswissenschaften im engeren Sinn und den Kulturwissenschaften, darin insbesondere den Rechtswissenschaften. Außerdem werden Vertreter der Wirtschaftswissenschaften in das Gespräch mit einbezogen werden, so dass die unterschiedlichen Blickwinkel auf den Begriff des Werts um den weniger missverständlichen materiellen Aspekt ergänzt werden. Während die Literatur Modelle für kulturelle Denkmuster bereitstellt, ohne sie verallgemeinernd der Beliebigkeit theoretischer Überlegungen auszusetzen, beschäftigen sich die Rechtswissenschaften mit Regelsystemen, die das Zusammenleben organisieren und Werte verteidigen und auch ändern.
In Kooperation mit dem deutsch-französischen Institut Ludwigsburg unter der Leitung von Prof. Dr. Frank Baasner richtet die Universität Tübingen zwei mehrtägige Kolloquien im Jahr aus, in denen die Projektpartner Fragestellungen zu einem Themenkreis im Dialog gemeinsam verhandeln. Die aus den Kolloquien resultierenden Erkenntnisse sollen von den Teilnehmern in eigenen Beiträgen aus ihrem kulturellen Blickwinkel dargestellt und in einem Sammelband publiziert werden. Darüber hinaus soll der wissenschaftliche Nachwuchs in das Netzwerk mit eingebunden und durch Stipendien gefördert werden. Gerade auch junge Diplomanden und Doktoranden sollen ihre Ideen und Fragen mit in den Dialog einbringen. Das erste Kolloquium fand Mitte November an der Universität Tübingen zur für das Rahmenthema grundlegenden Frage nach den Realisationsmöglichkeiten des Dialogs statt. Weitere Arbeitstreffen sind an den unterschiedlichen Orten der Projektpartner vorgesehen, so dass sich der Blickwinkel wirklich verändert und ein tatsächlicher kultureller Austausch stattfindet. Koordiniert wird das Projekt von Prof. Dr. Jürgen Wertheimer am Deutschen Seminar in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Heinz-Dieter Assmann von der juristischen Fakultät der Universität Tübingen.