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Roberto Cazzola
Sich versenken, um sich zu entgrenzen. Eine uneinnehmbare Burg am Kreuzweg vieler Grenzen im Werk von Etty Hillesum.
Im besetzten Holland wird die Grenze um die jüdische Bevölkerung immer enger und enger gezogen. Für Etty Hillesum, die bedeutendste Denkerin der Schoah in der Niederlande, bedeutet dies aber paradoxerweise die Möglichkeit, diese Grenze innerlich und zeitlich zu überschreiten und sogar zu sprengen. Umgeben von der SS, der Wehrmacht und ihren modernsten Waffen versenkt sie sich in sich selbst, wo sie, hinter den Mauern des Gebetes, Gott sucht und ihm begegnet, den KZ-Gefangenen ihre liebevolle und bedingungslose Hilfe schenkt und zugleich den Hass gegen die Besatzer um sich bekämpft (sie will bei sich selbst anfangen, um die Welt vom Hass zu befreien). Freiwillig geht sie ins Durchgangslager Westerbork, um dort ihren Glaubensgenossen beizustehen, um dort „Gott zu helfen“, in den anderen nicht abzusterben. Damit projiziert sie sich — mit und in ihrem Werk — geistig in die künftigen Generationen. Indem sie ihnen die Fackel weitergibt, sprengt sie die zeitlichen und räumlichen Grenzen: heute ist sie in vielen Sprachen der Welt (von Italien bis Japan) übersetzt. Sie lebt in uns weiter und belebt uns weiter.
Keine Grenze konnte sie fassen. Etty Hillesum hätte sich retten können, die Freunde versuchten vergeblich, sie zur Flucht zu überreden (man plante sogar ihre Entführung). Sie wusste aber: wenn sie sich versteckt hätte, wäre ein anderer an ihrer Stelle deportiert und umgebracht worden: den Nationalsozialisten ging es nicht um die Menschen sondern nur um „Stücke“, nur um Nummern und Zahlen. Und an der furchtbaren Grenze, den nie zerbombten Gleisen der Strecke Westerbork-Auschwitz wollte sie den Verfolgten beistehen. Hinter der Grenze aus Stacheldraht erlebt Etty Hillesum die höchste Entgrenzung: der Himmel kann nicht mit Stacheldraht umgrenzt werden, die Sterne (die Sterne des Kantschen Himmels) und die Möwen auch nicht. Die Schergen können Körper und Güter gefangen nehmen, nicht aber den Geist:
„Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig: Einer, der erniedrigt und einer, den man erniedrigen will, oder vor allem: der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft.“
Die gesamte holländische Natur ist nun mit bedrohlichen Tafeln beschildert: Die Juden dürfen nicht in den Wald gehen, weder mit der Bahn, mit der Straßenbahn, noch mit dem Rad fahren, sie dürfen nicht in „arischen“ Geschäften einkaufen, sie dürfen kein Gemüse kaufen usw., aber „der Himmel ist in mir ebenso weit gespannt wie über mir“.
Wo verlaufen eigentlich hier die Grenzen? Welche sind die wahren Grenzen: die materiellen oder die inneren, geistigen Grenzen? Welche Grenzen verlaufen innerhalb des Durchgangslagers? Welche Grenzen trennen die Gefangenen untereinander? Welche Grenzen trennen die Anständigkeit von der Kollaboration mit den Mördern seines eigenen Volkes? Welche Grenzen trennen die Solidarität vom blinden Selbsterhaltungstrieb? Welche Grenzen verlaufen zwischen Mitfühlen und Wegschauen, zwischen siechenden alten Gefangenen und verwahrlosten Kindern im Lager? Viele Grenzen zerfurchen die innere und äußere Welt des Lagers und der „christlichen“ Umwelt. Wer sind die wahren Gefangenen? Liegen sie dies- oder jenseits des Stacheldrahtes?
Es ist geschehen, es kann wieder geschehen. Das sollten wir klar vor Augen haben: sind die Grenzen in uns, in unserem heute postulierten „multiple self“ eindeutig und gut bewacht? Was können wir von der Erfahrung Etty Hillesums lernen? Diese Fragen und einige Grundthemen im Hillesums Gedankenwelt möchte ich in meinem Referat erörtern. Der innerlich freie Mensch, der Mensch, der in sich selbst hineinhorcht, um den anderen (im KZ oder in der heutigen Welt der Verfolgung) zuzuhören und ihnen in einer Extremsituation Aufmerksamkheit und Liebe zu schenken, das soll anhand der Tagebücher und Briefe Etty Hillesums in meinem Referat besprochen werden. Angesichts der äußeren Grenzen der erstickenden „Rassen“-Gesetze und des Stacheldrahtes, was hat sich als stärker erwiesen? Was hat überlebt: Etty Hillesum oder das „Tausendjährige“ Reich? Der Geist einer unbewaffneten Frau oder die Hitler-Waffen? Wie gesagt, die Frage wird nicht nur der Vergangenheit gestellt: Im Argentinien der späten Siebziger Jahre wurden die verschleppten Oppositionellen der Militärjunta in der berüchtigten ESMA (Escuela de Mecánica de la Armada) eingesperrt und gefoltert. Auch sie hatten um ihre Körper eine eiserne Grenze. Hatten sie aber auch eine innere Freiheit, hatten sie wie Etty Hillesum Gott in sich selbst? Einen Gott, zu dem man wie bei Meister Eckhart in der „abegescheidenheit“ wie zu einem spendenden Brunnen hinuntersteigen kann, um dort neue Kräfte zu schöpfen, um sie den anderen Leidensgenossen weiterzugeben. Über diese Art Grenzen und über ihre Sprengung möchte ich meine Überlegungen vortragen und zur Diskussion stellen, über den inneren aufrechten Gang und die noch bestehenden äußeren Stacheldraht-Grenzen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich glaube, dieses Thema wird auch bei einer Autorin wie Herta Müller ihre Securitate-Erfahrungen und Erinnerungen wachrufen. Grenzen, die viele Oppositionelle wie sie innerlich und in der äußeren Einkerkerung am Körper und in der Seele gespürt und erlitten haben.