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Türkei
Die totalitäre Herrschaft in der Türkei und Europa
Der Flüchtlingsdeal hat es in aller Dramatik vor die Augen geführt; die Kölner Demonstration von Erdogan Anhängern unterstrich es abermals: Der Puls der Türkei schlägt auch in Deutschland. Solche Beispiele, die man noch um die Unterstützung des IS durch Erdogan und vieles mehr erweitern kann, geben bereits einen Vorgeschmack davon, was demnächst auf Deutschland und überhaupt auf Europa kommen wird, wenn die Faschisierung der türkischen Gesellschaft unaufhaltsam fortschreitet.
Die Bezeichnung ‚faschistisch‘ mag den zarten Ohren derjenigen Geister ein wenig misstönig klingen, die in Erdogan schlimmsten Falles einen orientalischen Despoten nach dem alten Muster sehen möchten. Und sie wird ebenfalls auch den Politikern ungelegen kommen, die zu Recht auf den Flüchtlingsdeal mit Erdogan setzen mussten, damit Europa nicht wieder durch massenhafte Flüchtlingsströme heimgesucht wird. So brüchig auch dieser Deal sein mag! Schließlich wartet auch noch Putin händereibend darauf, dass Erdogan ihm wie eine reife Frucht (eine Lieblingsmetapher von Erdogan selbst) in die Hände fällt. Das dürfte weder der NATO noch der Europäischen Union gefallen, also die Beziehungen zu Erdogan bloß nicht weiter anspannen. Das Schreckensszenario kann man sich aber auch grundsätzlicher vorstellen. Man muss den Blick auf den Menschentypus lenken, den Erdogan personifiziert und dabei ist, massenhaft zu züchten. Eine gekränkte und gereizte Seele, die die Welt um ihn herum, die anders ist als er, nicht mit Würde und Bürde tragen kann. Dieser Typus bestimmt nicht nur die Politik, sondern wirkt vor allem kulturprägend.
Erdogan hat seine Macht zunächst und zumeist auf ein Wahlvolk gestützt, das ihn immer noch trägt. Aber eine bloße Wählermehrheit als Machtbasis erweist sich angesichts der großen Ziele, die sich ein Diktator steckt, als zu schwach. Man muss ihn übrigens beim Namen nennen; die Rede vom Sultan trifft die Sache nicht. Der bei den Türken nicht so verhasste Titel schmeichelt ihm gar. Man bestätigt ihn dadurch nur noch. Der Titel trifft aber auch deshalb nicht, weil Nichts so zurückkehrt, wie es einmal war. So wie das ‚Tausendjährige Reich‘ den Deutschen von damals nicht ihren ‚alten Kaiser‘ wiedergebracht hat, so kehrt mit Erdogan kein romantisch zu verklärender osmanischer Sultan vornehmer Abkunft wieder, sondern ein von Ressentiment getriebener Diktator aus unteren Schichten mit unersättlichem Hass. Das Gefühl der Unterlegenheit werden diese Schichten nie mehr los, selbst wenn sie längst die politische und ökonomische Elite im Lande aufstellen. Die fehlende innere Größe lässt sie überall Feinde und Provokationen wittern, die sie um ihr Heil bringen - daher ihre Rastlosigkeit und Hass. Vor allem besitzt aber Erdogan etwas, was die alten Sultane nie gekannt haben: eine Massengesellschaft mit den Institutionen eines Zentralstaates. Den Staat hat er. Was ihm fehlt, sind die Massen, die aber mehr tun sollen als nur an die Urne zu gehen. Auf zwei Wegen will er sich ihrer schlagkräftigen Solidarität dauerhaft versichern. Es sind zugleich die zwei Faktoren, die seiner Herrschaft den totalitären Charakter verleihen.
Der gescheiterte Putschversuch hat dafür gesorgt, dass sein Wahlvolk nahezu in orgiastischer Stimmung sich seiner Macht vergewissern konnte. Erdogan hat die Massen einen ganzen Monat lang im Erregungszustand gehalten, dessen Wohlgeschmack sie nicht mehr vergessen werden. Fortan muss jeder ernsthafte Widerstand gegen die Regierung in welcher Angelegenheit und welcher Instanz auch immer mit den Sturmabteilungen rechnen, die seither ihren sehnlichsten Wunsch zum Töten und Sterben für Erdogan unablässig öffentlich skandieren. Wir sollten dabei nicht bloß an einen formlosen Mob denken, der bei jeder Regung wild um sich schlägt, um sich etwa nach ihrer Entladung anschließend wieder im Nichts aufzulösen. Die ersten Anzeichen für die freiwilligen Sturmtruppen sind schon da. Inzwischen verteilen die Behörden großzügig Waffenscheine an die Bürger; die Volksmilizen sekundieren unverzüglich. Folgenreicher ist aber die feindselige Stimmung, die im Lande seitdem herrscht: jeder selbsternannte Rächer kann sich inzwischen zum Vollstrecker der Ehre Erdogans machen („Erdogan ist unsere Ehre“). Der kürzlich auf den Vize-Präsidenten der Republikanischen Volkspartei verübte Anschlag hat das mehr als deutlich unterstrichen. Er ist lediglich ein Glied einer Serie weiterer Anschläge, wohl mit dem bislang prominentesten Opfer.
Die Keimzelle seiner künftigen totalitären Türkei sieht aber Erdogan richtig in den Prediger-Schulen. Als eine Berufsschule hat die Predigerschule selbstverständlich ihre Funktion. Das Land braucht Imame für die Moscheen. Es wird jedoch eifrig daran gearbeitet, dass sie die reguläre Schule Stück für Stück ersetzt. Damit bekommt sie eine ganz andere Funktion. Die Republik hatte mit der Säkularisierung des Bildungssystems vor allem die konservative Moral in ihrem Kern getroffen. Vor allem mit der Koedukation wurde zumindest im Ansatz ein anderes Affektregime anvisiert, das enorme Effekte für die Gestaltung des öffentlichen Raums, jedenfalls in den Großstädten, zeitigte. Es sollte darum nicht verwundern, dass die Konterrevolution ebenfalls an der Schule ansetzt. Dort soll nämlich die künftige Generation, die „sich für ihre Sprache, Religion, Geist, Wissenschaft, Ehre, Haus und Hass einsetzt“ (Erdogan), massenhaft gezüchtet werden. Erdogan schlägt seine wichtigste Schlacht nicht im Norden Syriens, sondern im Schulwesen der Türkei. Die Regierung, gemeinsam mit Bilal, dem Kronprinzen des Diktators, der eigentlich keine amtliche Befugnis besitzt, ist dabei, die gesamte Schullandschaft nachhaltig durch die Prediger-Schulen zu erobern.
Immer mehr hat der Typus Prediger in Massenanfertigung die Bühne frei für sich. Sein Kulturziel sieht aber so anders aus, dass kein interreligiöser Dialog hier Abhilfe schaffen wird. Das Böse lauert für diesen Menschentypus nicht nur überall, sondern vor allen Dingen kommt es in der Regel vom Außen. Es nistet sich als Wohnort gerne an Röcken und offenen Haaren, lachenden und singenden Stimmen der Frauen ein. Hier wird eine andere Affektmodulation durchgesetzt. Der Mensch ist schwach gegenüber seiner Triebnatur, also soll er vor der Möglichkeit jedweder ‚Verführung‘ vorsorglich geschützt werden, anstatt ihn in seinem Umgang mit den Trieben und Affekten zu kultivieren. Darum ist der Staat so wichtig für den Islamisten. Dieser Fromme wird nie die Ruhe in sich finden, solange die Welt da draußen, die nun mal anders ist, als er sie sich wünscht, ihm ständig Verführungen bereithält. Die Welt da draußen ist darum auch klar aufgeteilt: Islam vs. Sünde (alias Westen). Darin ähneln die Islamisten Erdogans immer mehr den Taliban, deren ganze Existenz sich nur noch um die Unterscheidung ‚islamisch/unislamisch‘ drehte. Ich will mir die Analogie zu ‚deutsch/undeutsch‘ der Nazis, die Grundlage für eine unendliche Hetzjagd auf jegliche Differenz, nicht verkneifen.
Die psychopolitische Verfassung Erdogans, selber Absolvent der Predigerschule, ist die eines Menschen, der, auch wenn er politisch und ökonomisch ganz oben angekommen ist, mit vollem Hass von unten nach oben als Bedrängter (mazlum) klagt. Er ist noch immer der Schüler, der sich angesichts der Zumutungen der urbanen Kultur an seinem Recht, ohne Verführung und Provokation (tahrik) heimelig leben zu können, gehindert fühlt. Der islamische Gott wird zum Handlanger der angstversessenen Kleingeister gemacht, die ständig aus dem Zustand der Gekränkten heraus agieren. Kann so einer das Land noch regieren?
Erdogan regiert aber das Land schon lange nicht mehr. Die anfängliche, relativ erfolgreiche Regierungstätigkeit ist dem hastigen, immer mehr brutaler werdenden Herrschen eines Diktators gewichen. Die staatlichen Institutionen sind genauso verfallen, wie damit zusammenhängend die moralische Substanz der türkischen Gesellschaft erodierte. Wie sich Hitlers Visionen nie dazu eigneten ein Land jemals richtig zu regieren, weswegen er die Deutschen im Inneren und Außen in Dauererregung versetzen musste, bis die ganze Welt in Scherben zerfiel, so wird auch Erdogan nicht mehr regieren können. Selbst die Einführung des Präsidialsystems, sein ehrgeiziges Ziel, dem er den von ihm selbst ausgehandelten Frieden mit den Kurden geopfert hat, wird sein Ressentiment nicht stillen. Unter Ruhe versteht er inzwischen nur noch die Friedhofsruhe.
Noch ist die Türkei nicht ganz verloren. Noch leisten die freien Bürger der Türkei Widerstand. Noch ist der Widerstand nicht zwecklos. Nicht nur die Presse, sondern auch die Schüler und Studenten leisten Widerstand. Wir dürfen sie alle nicht alleine lassen. Sie kämpfen nicht alleine für ihre eigene Freiheit. Sie kämpfen auch dafür, dass Europa mit der Türkei weiterhin eine befriedete, ihm wohlgesonnene Nachbarin hat, die in Europa keinen Hort des Bösen sieht, sondern wie einstmals einen Ort von Fortschritt, Freiheit und Wohlstand, dessen Nähe man gerne sucht. Gibt Europa diese anständigen Menschen auf, so opfert es auch ein Stück von seiner eigenen Zukunft. Ob Deutschland jemals in Hindukusch verteidigt werden konnte, mag für viele offenbleiben. Die Schlacht, die jetzt in der Türkei geschlagen wird, betrifft Europa definitiv in seinem Wesen.