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Fawzi Boubia
Theorie und Praxis der „Grenze“ bei Goethe und Hegel.
In der „Goethe-Zeit“ haben wir die in der Weltliteratur außergewöhnliche Konstellation Goethe-Schiller, die hinreichend bekannt ist, und auch oft analysiert wurde. Es gibt aber eine andere Konstellation, die nicht weniger interessant ist, eine Konstellation, in der zwei Autoren, Goethe und Hegel, sich sehr gut miteinander vergleichen lassen und auch konfrontiert werden können. Diese glücklich-unglückliche Fügung, die für die deutsche Geistesgeschichte schwerwiegende Folgen haben sollte, ist hingegen wenig bekannt und entsprechend auch in der Forschung selten berücksichtigt worden.
Weltensammler Goethe und Meisterdenker Hegel, diese beiden großen Repräsentanten der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, deren Ausstrahlung sich nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, sondern universell und überdies eminent aktuell ist, wurden also meist unabhängig voneinander erforscht. Dabei kreisen ihre theoretischen Überlegungen und praktischen Entwürfe, damals schon, um die gleiche Thematik, also um Deutschlands Platz in einer Welt, die im Begriff war, sich zu globalisieren. Dafür haben sie jeweils einen zentralen Begriff geprägt. Einen Begriff mit umfassender Tragweite. Einen Begriff, der dazu angelegt ist, die Totalität des menschlichen Daseins und der menschlichen Wirksamkeit zu erfassen, das Ganze gegenüber dem Einzelnen hervorzuheben bzw. das Besondere im Kontext des Allgemeinen zu reflektieren. Beide haben also im Kontext der einsetzenden Industrialisierung globalisierende Entwürfe vorgelegt, in denen nicht nur über Deutschland und dessen Stellenwert in der Welt reflektiert wird, sondern hauptsächlich über die Beziehungen zu den anderen Kulturen und Nationen. Grenzen, Begrenzungen und Abgrenzungen lagen logischerweise im Zentrum ihrer Reflexionen und der praktischen Umsetzung ihrer Ideen.
Es handelt sich bei Goethe um den Begriff „Weltliteratur“, bei Hegel um den „Weltgeist“. Die Beiden Begriffe waren dazu bestimmt, die Welt mit ihren Grenzziehungen und Grenz¬überschreitungen zusammenzudenken, bei Goethe in erster Linie über den Umweg der Literatur und Poesie, bei Hegel hauptsächlich auf der Grundlage eines umfassenden Studiums der Weltgeschichte der Menschheit.